Kriminelles Dilltal
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Narrhalla-Mord

Prolog

 

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und zog an seiner Zigarette. Er hatte es ihnen gezeigt. Allen hatte er es gezeigt. Es war seine Rache, und sie war noch nicht zu Ende. Der heutige Abend war nur der Anfang.

Wie sie dagesessen und seiner Büttenrede gelauscht hatten. Anfangs in ausgelassener Stimmung, erwartungsvoll auf die kleinen Spitzen, für die seine Reden als Protokoller bekannt waren. Spitzen, die so manches aufs Korn nahmen und doch nicht zu sehr wehtaten. Darauf hatten sie gewartet. Gespannt gewartet, nachdem es hieß, dass er überraschend wieder in den Karneval einsteigen würde, nach zwei Jahren Pause.

Er grinste in der Erinnerung an ihre erwartungsvollen Blicke.

Und er hatte begonnen, wie man es von ihm erwartet hatte. Ein Blick auf das Geschehen im zurückliegenden Jahr. Genussvoll hatte er registriert, wie im Laufe seiner Büttenrede die Blicke starrer wurden, wie sie unsicher umherirrten, wie sich die scheinheilige Schar immer hilfloser anblickte, als sich seine Verse wie Finger in offene Wunden legten.

Er zog wieder an seiner Zigarette und grinste.

Da hatten sie da unten gesessen, und ihre Blicke waren immer ratloser umhergekreist. Das Lachen war ihnen zunehmend im Hals stecken geblieben, bis es sie schier zu ersticken drohte. Bis der Erste seinem Unmut Luft gemacht und „Buh!“ gerufen hatte.

Da hatten sie dann alle eingestimmt, erst verhalten, noch unsicher, dann aber immer mehr immer kräftiger.

Aber es hatte eine Weile gedauert, bis der Chor der Buh-Schreier lauter geworden war als seine Stimme, die übers Mikrofon verstärkt worden war. Erst als Toni Bamberger, der Sitzungspräsident, rot angelaufen und schwer atmend das Zeichen gegeben hatte, ihm den Ton abzudrehen und Heiko den Hebel am Mischpult nach unten gefahren hatte, übertönte das Unmutsgejohle seine Stimme. Dann waren Herbert und Eberhard gekommen und hatten ihn nachdrücklich und unsanft aus der Bütt gedrängt.

Er hatte keinen Widerstand geleistet, denn er hatte erreicht, was er erreichen wollte. Er hatte die ausgelassene Stimmung in den Vorhof der Hölle verwandelt. Als Herbert und Eberhard ihn zwischen den Tischreihen nach draußen drängten, hatte er sich übelste Beleidigungen anhören müssen, von denen „Spaßbremse“, „Arschgeige“ und „dumme Sau“ noch die harmlosesten gewesen waren. Der Inhalt mehrerer Gläser Bier und anderer Getränke hatte sich über ihn ergossen und natürlich auch Herbert und Eberhard getroffen, die eigentlich gar nichts dafür konnten. Die Leute waren innerhalb von Minuten von einer ausgelassen-fröhlichen Stimmung in eine tiefe Enttäuschung geworfen worden. Und die machte sich zunehmend in Aggression Luft. Hätten Herbert und Eberhard ihn nicht hinaus geleitet – niemand hätte dafür garantieren können, dass er hier ohne ernsthafte Blessuren rausgekommen wäre. Aber das war ihm letztendlich egal, schließlich hatte er es einkalkuliert, dass sie ihn kreuzigen würden.

An der Saaltür hatte ihm Eberhard einen kräftigen Schubs gegeben, der ihn in die frische Nachtluft befördert hatte, und ihm „Du blödes Arschloch!“ nachgerufen. Herbert hatte den Kopf geschüttelt und gefragt: „Wie konntest du das nur machen?“

Eine Antwort hatte er nicht abgewartet und war in den Saal zurückgegangen. Eine Antwort war auch gar nicht nötig. Jeder wusste ja, warum er das gemacht hatte.

Er hatte es ihnen gezeigt. Ihnen den Spiegel vorgehalten, in den sie gerade an einem solchen Tag am wenigsten zu blicken bereit waren. Die Heuchler, die damals Mitleid bekundet hatten, um wenig später zur Tagesordnung überzugehen und die neue Kampagne zu planen.

Und heute hatte er ihnen die Wahrheit gesagt. Wieder zog er an seiner Zigarette, die fast schon bis zum Filter aufgeraucht war. Er bedauerte nur, dass er nicht mehr dazu gekommen war, den letzten Teil seiner Büttenrede vorzulesen. Der hatte es ja auch noch einmal in sich.

Er grinste wieder.

Es war sein letztes Empfinden. Den heftigen Schlag, der ihn am Kopf traf, nahm er nur noch unbewusst war. Bewusstlos stürzte er auf den eiskalten Betonboden.

Beim zweiten Hieb mit der schweren Eisenstange hörte sein Herz auf zu schlagen. Zwei weitere Schläge verwandelten seinen Kopf in eine unförmige Masse aus zersplitterten Knochen, Blut und Hirnflüssigkeit.

 

 

 

***

 

 

Sonntag, 22. Februar

 

Tobias und Corinna taumelten in einander gehakt ins Freie. Corinna kicherte immer noch über den Witz, den ihr Tobias beim Rausgehen erzählt hatte. Die kalte Luft der Spätwinternacht war fast angenehm, wirkte erfrischend für die vom Sekt erhitzen Köpfe der beiden. Etwas unsicher staksten sie die Treppe hinab, und Tobias führte sie zielstrebig in den Schatten, den die Straßenlaterne unterhalb der Küche warf.

Beflügelt vom Alkohol, entlud sich das jetzt vor allem vor den anderen im Saal zurückgehaltene Verlangen in einem wilden Kuss. Dann sah die leicht beschwipste Corinna Tobias an und fragte: „Woher wusstest du eigentlich, dass ich als Schottin komme?“

Tobias lächelte. „Instinkt. Der Instinkt des Wolfs.“

Corinna schürzte die Lippen. „Kannst du denn so ein Wolf sein?“

„Wenn du nicht von mir verlangst, auch noch den Mond anzuheulen.“

Wieder machte sie einen Schmollmund und blickte auf seinen karierten Rock.

„Stimmt das eigentlich, dass bei den Schotten da nichts drunter ist?“

Tobias grinste. „Dass musst du schon selber feststellen.“

„Das werd ich“, kicherte Corinna, hockte sich vor ihn, lüftete den bis über seine Knie reichenden grün-blau karierten Rock und fand die Legende bestätigt, auch wenn Tobias kein Schotte war.

 

***

 

„Eine Sauerei, was hat sich der Richard dabei nur gedacht“, stieß Eberhard mit leicht belegter Zunge hervor, „ich versteh nicht, wie er so was tun konnte.“

Toni war nur mit halbem Ohr dabei. Er musterte nochmals die verbliebenen Besucher der Prunksitzung. Was er sah, beruhigte ihn etwas. Bei Richards Rede war die Empörungskurve über dessen Unflätigkeiten förmlich nach oben geschnellt. Aber das musste nichts heißen. Nach einigem Nachdenken konnte der eine oder andere auf die Idee kommen, Richards Behauptungen zu hinterfragen. Doch die Reaktionen unmittelbar nach Ende der Sitzung und auch jetzt – immerhin war es schon kurz nach halb drei Uhr nachts – ließen eher den Schluss zu, dass von Nachdenken nicht die Rede war.

Nach Richards unrühmlichem Abgang war relativ schnell die Feierstimmung zurückgekehrt. Und auch jetzt sah er keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendjemand auf kritisches Hinterfragen aus war. Die Kapelle ging in die letzte Runde, nur noch wenige waren auf der Tanzfläche in Bewegung, und auch an den Tischen saßen nur noch ein paar einsame Hartgesottene.

„Jaja“, sagte er zu Eberhard, „eine Sauerei. Aber lassen wir uns dadurch nicht die Stimmung vermiesen. Komm, wir nehmen noch einen Absacker an der Sektbar!“

Eberhard nickte automatisch und trottete hinter Toni her, obwohl er eher schon den Eindruck erweckte, dass ein weiterer Absacker unnötig war.

 

***

 

„Was tragen Schottinnen eigentlich unterm Rock?“ war Tobias’ Frage, nachdem er sich einige Zeit Corinnas Wellness-Programm hingegeben hatte.

„Musst du halt rausfinden“, antwortete sie grinsend und drehte sich um.

Tobias lupfte den rot-grün karierten Rock und ließ dann jenen brunftigen Zufriedenheitslaut hören, den Alfred Biolek in seinen Kochsendungen manchmal von sich gab, wenn er den Wein zum gerade in Produktion befindlichen Braten probierte.

Oberhalb der halterlosen Nylons gewahrte Tobias einen zum Rock passenden, grün-rot karierten String-Tanga, der bedienerfreundlich an den beiden Seiten mit zwei Druckknöpfen besetzt war. Corinna hatte sich tatsächlich auf alles vorbereitet.

Jetzt kilts, dachte Tobias schmunzelnd.

Corinna hatte sich auf das Geländer vor ihr gestützt. Sie hörte das plopp-plopp der beiden Druckknöpfe und fühlte einen kühlen Luftzug zwischen den Beinen. Als sie Tobias hinter sich spürte, schloss sie verzückt die Augen. Trotz der lausigen Kälte durchlief sie ein wohlig-warmer Schauer. Dass über ihr in der Küche das Licht angegangen war und einen fahlen Schein auf die Umgebung warf, nahm sie, nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, zunächst nur vage wahr.

Während Tobias hinter ihr seine Hüftbeweglichkeit unter Beweis stellte, versuchte sie dieses seltsame Bündel zwei Schritte vor ihr einzuordnen, das sich in dem schwachen Lichtschein abzeichnete. Wer hat denn da seinen alten Mantel hingepfeffert? dachte sie zunächst, während sich ihr Lustgefühl steigerte. Aber mit dieser Steigerung war es schnell vorbei. Je mehr sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, umso mehr weiteten sie sich vor Schrecken.

Aus dem scheinbar zusammengeknüllten Mantel schauten auf der der rechten Seite zwei Unterschenkel hervor. Links am Kragen gewahrte sie nun einen Kopf – oder das, was von ihm übrig geblieben war – einen Kopf, dessen Oberteil weit aufklaffte und dessen bleiches Gesicht den Ausdruck völligen Unverständnisses zeigte. Die aufgerissenen Augen und der weit geöffnete Mund waren ein Spiegelbild abgrundtiefen Erschreckens, das in einer Sekunde schockgefrostet worden sein musste.

Es war das schreckensbleiche Antlitz von Richard Mühlberg, das in einem See aus Blut lag, der sich auf dem harten, frostigen Boden ausgebreitet hatte.

„Aaahhh“, kam es aus Corinnas Schreck geweiteten Mund. Was Tobias völlig falsch deutete.

„Jetzt schon? Ich fang doch grade erst an!“

Der unartikulierte Ausruf wiederholte sich, jetzt aber etwas lauter. Tobias nahm Tempo auf. Ein drittes „Aaahhh“ ging in einen schrillen Schrei über, der nur noch durch ein ruckartiges Atmen unterbrochen wurde. Tobias war entsetzt. Er spürte, wie er zum Ziel kam und sich gleichzeitig Corinnas Körper zunehmend verkrampfte. Er sprang zurück und starrte die junge Frau nur noch entgeistert an. Corinna schrie, als ob sie gepfählt würde, wobei sie immer noch nach vornüber gebeugt auf das Geländer gestützt dastand. Zu keiner Bewegung fähig.

„Was ist los, hör auf zu schreien“, zischte Tobias. Vergeblich, denn Corinnas markerschütternde Schreie hallten weithin, waren aufgrund der Hauptwindrichtung wohl noch in Wetzlar zu hören.

„Was ist los, verdammt“, raunzte Tobias, der zunächst schnell Corinnas Schottenrock wieder in Falten fallen ließ und dann neben sie sprang. Was er sah, ließ seinen Atem stocken. Da lag – ja, es war kein Zweifel – Richard Mühlberg in seinem Blut. Tobias erster Gedanke, nachdem er die Situation erfasst hatte, war: Alibi?

Dann übergab er sich in die Büsche.

Mittlerweile waren in der Nachbarschaft die ersten Fenster erhellt. Irgendjemand schrie: „Aufhören, ihr Idioten, sonst ruf ich die Polizei!“

Tobias, der keuchend vor den Büschen stand und sich mit einem Taschentuch über den Mund wischte, dachte: Beides am besten. Die Polizei muss kommen. Und wenn doch diese blöde Kuh endlich mit ihrem bestialischen Geplärre aufhören würde ...

Tatsächlich stand Corinna noch immer vornüber gebeugt und schrie sich die Seele aus dem Leib. Da im Saal die Musik aufgehört oder zumindest noch einmal eine Pause eingelegt hatte, war auch dort der nicht unerhebliche Lärmpegel vor dem Gebäude gehört worden. Alles rannte, sofern dazu in der Lage, nach draußen. Toni, der nach Richards Rede für den Rest der Veranstaltung ohnehin nur noch in der Kategorie „Katastrophe“ dachte, war der Erste, der bei den beiden in der halbdunklen Ecke ankam.

„Was ist hier um Gottes willen los? Warum schreit die so?“ presste er mit kaum zurück gehaltener Wut über den nächtlichen Aufruhr hervor, der mittlerweile die gesamte Nachbarschaft auf die Straße oder zumindest in die offenen Fenster getrieben hatte, um zu sehen, was da um kurz vor drei Uhr morgens los war. Erst Richards verfluchte Büttenrede und jetzt auch noch dieser Aufruhr.

Corinnas Schreien war mittlerweile in ein unartikuliertes, hysterisches Schluchzen übergangen. Noch immer hing sie am Treppengeländer, aber Ursula, Tonis Frau, hatte die Szene erfasst und bemühte sich jetzt, sie zu beruhigen und in den Saal zu bringen. Dabei fiel ihr Blick auf die blutige Leiche. Mein Gott, das ist ja Richard, dachte sie und schloss für einen Moment vor Entsetzen die Augen. Dann fasste sie sich wieder, bekreuzigte sich und schob Corinna, die immer noch von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, mit sanftem Nachdruck vom Geländer weg und in den Saal.

Tobias sah seinen Vater schwer atmend an. Noch immer rebellierte sein Magen, krampfte sich zusammen, und er hatte das Gefühl, sich wieder übergeben zu müssen.

„Was ist?“ schrie ihn Toni jetzt an.

Tobias schluckte und deutete dann mit einer Kopfbewegung zur Mauer.

„Richard, da liegt Richard“, war das Einzige, was er rausbrachte, bevor er sich wieder ruckartig umdrehte und auch die letzten Reste von Schnitzelbrötchen, Bockwurst, Weizenbier und Sekt den Büschen anvertraute.

Toni machte einen Schritt nach vorn, und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Sein Mund öffnete sich, er wollte etwas sagen, aber er brachte erst einmal nichts hervor.

„Das ist ... das ist ... mein Gott!“

Inzwischen waren auch die anderen herangetreten und sahen die Leiche. Das gleiche ungläubige Entsetzen machte sich in den gleichen hilflosen Worten Luft, die Toni wieder ein bisschen aus seiner Starrheit weckten. Etwas muss getan werden, dachte er, die Polizei muss her.

„Wer hat ein Handy dabei?“ fragte er in die Runde. „Tobias, hast du dein Handy einstecken?“

Der nickte nur kraftlos.

„Los, ruf die Polizei an! Das hier ist kein Unfall. Das ist Mord oder Totschlag.“

Tobias zückte sein Mobiltelefon aus der Innentasche seiner schottischen Weste und hielt es seinem Vater hin. Sein Atem ging immer noch keuchend, und er war unfähig zu sprechen.

Toni riss ihm das Handy aus der Hand, tippte die Notfallnummer und wartete.

„Ja, Bamberger, guten Abend oder besser guten Morgen. Ich muss Ihnen einen Leichenfund melden. Nein, keine Schnapsleiche. Hier ... hier ist ein Verbrechen geschehen!“

Toni gab die genaue Straßenbezeichnung durch und beendete das Gespräch.

„Kommt Leute, geht in den Saal. Die Polizei wird gleich kommen. Wir sollen hier nichts anrühren. Auf, geht rein!“ forderte er das versammelte Häuflein der Restfeiernden auf, die mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes ernüchtert und immer noch fassungslos vor der gespenstischen Szenerie standen und wie am Boden festgefroren schienen. Erst nach mehrmaliger Aufforderung durch den Sitzungspräsidenten gingen sie beinahe wie in Trance zurück in den Saal, um das Eintreffen der Beamten zu erwarten.

 

***

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